Auf Augenhöhe

Nachdem das Dorfgemeinschaftsprojekt mittlerweile mehr als zwei Jahre läuft, haben wir alle eine Menge Erfahrungen (miteinander) gesammelt. Nicht nur solche, die im Zusammenhang mit Corona stehen. Ich hatte es mir ehrlich gesagt nicht so schwierig vorgestellt, Gemeinschaft zu stiften. Die Gruppendynamiken und das Vermitteln zwischen Leuten kosten viel Zeit und Kraft. Nicht nur mich.

Wir leben offenbar alle in sehr, sehr unterschiedlichen Lebenswelten. Selbst dann, wenn wir nah beieinander wohnen. Damit scheinen wir uns nicht (mehr?) so richtig vorstellen zu können, was Alltag für das Gegenüber ist. Das betrifft längst nicht nur finanzielle Unterschiede. Auch

  • wie viel Zeit wir haben,
  • Umgang mit Technik,
  • Umgangsformen miteinander,
  • Wissen und Auffassungsgabe,
  • Schnelligkeit,
  • körperliche Grenzen etc. etc.

Insgesamt sind unsere Erfahrungen auf sehr, sehr vielen Gebieten so völlig anders. Oft war mir das bei anfänglichen Begegnungen nicht einmal klar, dass soooo viel überbrückt werden muss. Ich denke, Anderen geht es ähnlich. Wir schließen so oft von uns auf Andere. Das ist so leicht. Es ist ja auch verführerisch zu meinen, dass wir längst wissen, wie der Andere so tickt. Erst nach und nach – bei längerem oder öfterem Kontakt – sickert die Andersartigkeit ins Bewusstsein, siehe auch der Beitrag „Das wachsende Nichtwissen“. Vielleicht merken wir es sogar erst dann, wenn was schief gegangen ist.

Dass wir in unserer Gesellschaft unter ständigem Zeit- und manchmal auch Energiemangel leiden, ist bekannt. Dass wir so oft viel mehr wollen als schaffen. Damit ist es absolut nicht einmal dann leicht, Verständnisbrücken zu bauen, wenn uns bewusst ist, dass da grad wieder was schief gehen kann. Oder vielleicht schon schief gegangen ist, nur der/die Andere macht den Mund dazu (noch) nicht auf.

Wir vestecken so viel. Voreinander beim Kennenlernen, und auch später.

Für mehr Mut und weniger Bewertungen

Und wir urteilen so schnell. In meiner Zeit in den USA hat man mir gesagt, das würde man als typisch deutsch empfinden. Ich kann nicht sagen, ob es typisch für uns Deutsche ist. Auf jeden Fall stehen wir uns mit schnellem Urteilen selbst im Weg, wenn wir eigentlich Verbindung suchen. Erst recht, wenn wir dann so verletzt sind, dass wir Korrekturen nicht mehr zulassen. Aus Schutz. Schutz, der uns aber trennt.

Das Dorfgemeinschaftshaus steht für Verbindung. Dorf in der Stadt. Wir wollen uns kennen, so wie man sich in einem Dorf kennt. Aber ohne das Hässlich-über-Andere-reden. Ohne die Ausgrenzung, die in Dörfern leider oft auch gegeben ist. Ohne das Einteilen in „oben“ und „unten“ oder „In-Group“ und „Out-Group“.

Dazu braucht es guttuende Kommunikation und Offenheit. Fragen stellen statt urteilen. Verstehen wollen statt dichtmachen.

Erst recht ist Kommunikation nicht einfacher in Zeiten der Online-Welt. Zu der gehört unsere Website genauso wie der Newsletter, die Präsenz auf nebenan.de oder SMS, E-Mails und Chatnachrichten über Messenger-Dienste wie WhatsApp und Telegram. Ganz schön viel elektronischer Austausch gegenüber den wenigen Treffen so am Tag, sogar in der Woche oder im Monat. Telefonate nehmen meiner Meinung nach einen Zwischenplatz ein zwischen live und Elektronik. Am Telefon kann man noch ein wenig mehr sein Bauchgefühl einsetzen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass Bauchgefühl wichtig ist, um sich umfassender zu verstehen, als wir uns mit Worten ausdrücken und das Gegegnüber aufnehmen können.

Der eine höher, der andere weiter, beide umwachsen mit Efeu. Ein friedliches Miteinander in unserem Garten.

Wie weiter nach Missverständnissen

Missverständnisse wird es dennoch immer geben. Schultz-von-Thun, ein Kommmunikationsforscher (siehe Literatur), meint, Missverständnisse seien sogar die Regel, nur würde das Hineininterpretierte oft nicht sooo trennend wirken, dass wir nicht weiter miteinander redeten. Lasst sie uns ausräumen, statt unsere spontane Interpretation als Wahrheit oder Tatsachen anzunehmen. Auch wenn es Mut kostet. Lasst uns nach einer kurzen Zeit, in der wir unsere Seele erst einmal streicheln, um diesen Mut zu fassen, wieder aufeinander zugehen. Damit wir auf Augenhöhe versuchen, das, was uns getrennt hat, anzuschauen. Wenn es bleibt, sind und bleiben wir vielleicht in diesem Punkt einfach unterschiedlich. Selbst dann kann es mit dem Wissen darum gemeinsam weitergehen. Wenn wir diese Unterschiedlichkeit achten ohne zu bewerten.

Mir ist klar, dass das alles schwer ist. – Und dass ich selbst auch oft wieder reinfalle in die Urteils- und Bewertungsfallen. Denn so zu handeln sind wir gewohnt in dieser Gesellschaft, nicht nur in diesem Jahrhundert. Es hat Tradition, hat auch mit Autoritäten und Hierarchien zu tun (siehe GFK-Literatur). Wir dürfen auch Übende bleiben – unser ganzes Leben lang. (Manches aus unserer Vergangenheit zu überwinden braucht eben Zeit.) Und wenn wir uns gegenseitig darin unterstützen, wird es auch ein Stückchen leichter. Das beides finde ich sehr, sehr tröstliche, ja befreiende Gedanken.

PS: Für Neugierige: Dieser Artikel ist nicht aufgrund eines aktuellen Vorfalls entstanden, sondern ist die Essenz aus den Erfahrungen der letzten Jahre. Was wir gern zugeben: Längst nicht immer sind unsere Versuche gut ausgegangen. Wieder aufstehen, ist auch eine Kraft.

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